Leseproben
Dies ist der Anfang des Moses-Epos aus "Wer mit Gott geht ...":
Abglanz der Sonne auf Erden, goldenes Gleichnis der Götter,
wassergeborene Heimat ferne gewanderter Fremder,
bleibender Nachhall der Zeit, da Riesen und Söhne des Höchsten
machtvolle Verse mit frohem, heiligem Ernst rezitierten –
das ist Ägypten, Sinnbild der ewigen Zweiheit des Daseins.
Oben und Unten, Diesseits und Jenseits verleihen dem Lande
feste kristallene Ordnung, ungetrübt klar und beständig.
Oben am Flusse die Hirten, unten im Schwemmland die Bauern,
diesseits gebunden die Menschen, jenseits die Götter im Fluge,
östlich des Stromes das keimende Leben, westlich die Gräber.
Tod folgt seit je dem Leben nicht anders als Nacht folgt dem Tage.
Trotzdem steigt täglich ein siegreicher Ra in blendender Barke,
hebt als Harachte das Haupt und bezwingt die Macht des Apophis.
Ewiglich pendelt das Dasein zwischen den Grenzen des Ganzen.
Höher am Himmel zeichnen die Götter die Spuren des Schicksals.
Nirgendwo sonst ist das nahe nächtliche Himmelsgewölbe
sternenbestückter denn hier in der kühlen Weite der Wüste.
Nirgendwo sonst hat man tiefer geschaut der Sterne Bedeutung,
lernte man sehen Amun-Ras oberste Absicht und Weisung.
Wahrlich wie Erben der Welt vor der Welt bezeugen noch immer
stolz ihre hehre Herkunft das Reich und der Reichtum Ägyptens.
Unter den Völkern erregen sie allseits Staunen und Ehrfurcht.
Über die tosenden Wasser Erde umwälzender Fluten,
über das dunkle, tiefe Rumoren versinkender Welten,
durch die Äonen sich unabwendbar verrohender Zeiten
leuchtete weiter bis jetzt das Licht seiner gottgleichen Gründer.
Uralte, strahlende Weisheit ruht in gigantischen Bauten,
Himmel und Erde verbindender Werke einstiger Helden.
Schweigsame Priester hüten ein lang überliefertes Wissen.
Aber auch sie, die restlos der Wahrheit des Einen Geweihten,
können mit all ihrer Weitsicht, Zauber und Macht nicht verhindern
wachsende Schatten im Volk hinauf bis zum Thron seines Herrschers.
Einfache Bauern gleich wie die stolzen Beamten des Hofes,
strebsame Fürsten und Prinzen, ebenso Schreiber und Händler –
alle erfasst mit dem Wandel der Zeit ein Dämon der Lüge.
Isfet verdrängt unaufhörlich Ma’at, die Wirrnis das Rechte.
Weiter und weiter zieht sich zurück aus den Herzen der Menschen
Güte und Sinn für das wirkliche Wesen seiender Götter.
Habgier verdrängt mit Gewalt die Tugend der Demut und Milde,
Angst macht aus ihnen am Ende Feiglinge, Zweifler und Heuchler.
Tausende Jahre lebten die Enkel der Söhne der Götter
friedlich für sich, umfriedet von Wasser, von Wüsten und Bergen.
Dann aber wittern sie jenseits der Grenzen überall Feinde:
Nubier, Libyer, Hyksos, Hethiter – ihnen so ähnlich.
Grausame Söhne der neuen finsteren Ära sind alle.
Hilflos betrachten die nunmehr geheimen Diener der Wahrheit
wie mit dem Wachsen der Schatten Heere und Hass sich verbreiten.
Es folgt ein längerer Abschnitt aus meinem Roman "Die Vorbotin - Ein Land im Aufruhr":
Lukas Zorn ärgert es, dass seine Messdiener schon wieder spät dran sind. Die beiden Jungen müssen endlich lernen zuverlässig zu sein. Er will gerade sein Gewand für die sonntägliche Messfeier ohne die Hilfe der Ministranten anlegen, als hinter ihm leise die Tür geöffnet wird. Na endlich, denkt er, gerade noch rechtzeitig. Doch als der Priester sich umdreht, erblickt er nicht die erwarteten Knaben, sondern eine fremde Frau, noch dazu eine Frau, die kaum anständig angezogen ist.
Zorn legt das liturgische Tuch erstaunt über einen Stuhl und richtet sich auf. „Wer sind Sie, was wollen Sie?“
„Ich bin Satiasana, aber mein Name ist nicht so wichtig. Ich bin gekommen um zu helfen.“
Der Pfarrer runzelt die Stirn. „Danke, ich brauche keine Hilfe. Bitte verla…“
„Leider doch! Und ich bin geschickt worden um diese Hilfe zu leisten.“
„Geschickt? Wer schickt Sie?“
„Die Lichten Mächte.“
Eine Irre, denkt Zorn mit Schrecken, und mahnt sich zur Vorsicht. „Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie wollen. Sie sollten jetzt wieder gehen.“
„Sie müssen die Messfeier absagen und zwar unverzüglich. Sorgen Sie dafür, dass niemand in der Kirche ist, und verriegeln Sie Türen!“
Da fährt der Priester herum und schaut sie ungläubig an. „Sind Sie von Sinnen? Wieso sollte ich den Gottesdienst absagen und die Gläubigen aus der Kirche werfen? Wie sind Sie
überhaupt hier hereingekommen?“
„Sie müssen es tun – wegen der Dunklen Mächte.“
Da lächelt Pfarrer Zorn und sein Lächeln gerät etwas dünkelhaft. „Seien Sie beruhigt, der Teufel kommt hier nicht über die Schwelle. Wenn Sie jetzt also bitte geh…“
„Die Lichten Mächte haben den Mächten der Finsternis erlaubt ihr Unwesen zu treiben – aber natürlich nur bis zu einem gewissen Ausmaß. Der Schaden, den die Herren des Dunkels anrichten, dient der höheren Absicht. So ist es immer. Bedenken Sie das! Jetzt aber müssen Sie Ihre Gemeinde schützen.“
Der Priester geht auf die Fremde zu und fasst sie am Oberarm um sie aus der Sakristei hinauszuführen. In dem Moment geschieht mit ihm etwas Erstaunliches, das ihn nicht nur sprachlos macht, sondern gänzlich aus seinem gewohnten Leben heraushebt. Er wird auch später kaum in der Lage sein zu beschreiben, was in diesem Augenblick geschah. Seine Empfindung ist äußert lebendig und er soll sich noch Jahre später daran erinnern. Nur fällt es ihm schwer, sie in Worte zu fassen. Kaum hat sich seine Hand entschlossen um den Arm der Fremden gelegt, sieht er sich von einem weißen Licht umgeben. Er gerät leicht ins Schwanken und hat das Gefühl nicht zu halten, sondern gehalten zu werden, oder vielmehr ergriffen zu sein. Das Licht scheint ihn auszufüllen. Es macht den verdutzten Priester ganz leicht und versetzt ihn in einen Glückszustand, den er im Diesseits gar nicht für möglich gehalten hätte. Mitten in dieses Gefühl der Glückseligkeit hinein spricht Satiasana ihn an, nicht unfreundlich, aber doch eindringlich und fordernd.
„Zweifeln Sie nicht, Zögern Sie nicht! Schließen Sie die Kirche sofort ab!“
Die warnenden Worte, die lichten, lichtgeborenen, leuchten dem Pfarrer unmittelbar ein und sein Widerstand löst sich auf. Er gibt dem Drängen der Fremden nach und geht ohne ein weiteres Wort in die Kirche hinaus. Was ihn sonst eher betrüben würde, erleichtert ihn heute, denn er trifft kaum Gläubige in den Bänken an. Er geht auf sie zu und erklärt, dass heute die Messe nicht stattfinden wird. Er murmelt etwas von einem Notfall und bittet die verdutzten Kirchgänger sofort das Gotteshaus zu verlassen. Dann schließt er hinter ihnen ab und kehrt in die Sakristei zurück, wo er die blonde Frau noch anzutreffen hofft. Doch die Fremde ist nicht mehr da. Stattdessen stehen die beiden Messdiener verunsichert herum. Pfarrer Zorn schickt auch sie mit dem Verweis auf einen nicht näher beschriebenen Notfall nach Hause.
Zum Notfall kommt es dann tatsächlich. Kaum eine halbe Stunde später, Lukas Zorn sitzt inzwischen in seiner Wohnung unweit der Kirche, bricht unvermittelt ein Teil des Kirchendaches ein. Schwere Balken und Gesteinsbrocken, groß wie ein Opferstock, stürzen auf die Bänke im Mittelschiff hinunter. Der Aufprall verursacht einen Höllenlärm, der den Priester aus seiner Andacht reißt. Er eilt in die Kirche, wo er nur noch fassungslos auf den Schaden starren kann.
Pfarrer Zorn ist erschüttert, aber die Erschütterung rührt nicht vom Absturz der Dachbalken und Gewölberippen her. Was ihn aufs Heftigste bewegt, ist der Auftritt dieser verführerisch schönen Frau. Er ringt mit sich. Wer ist diese Untergangsprophetin? Wer hat sie geschickt? Ist sie irgend so eine Neuheidin, eine Schamanin? Sie hat ihn gewarnt, kein Zweifel, sie hat gewusst, was auf ihn und seine Kirche zukam. Aber wie soll er das verstehen? Gehört die Fremde damit selbst den „dunklen Mächten“ an, von denen sie sprach. Wusste sie deshalb im Voraus Bescheid, weil sie in die Pläne der Finsternis eingeweiht war? Versucht sie ihn mit ihrem diabolischen Wissen zu beeindrucken, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Darf er ihr glauben?
Der Priester reißt sich aus seinen trüben und bangen Gedanken und kehrt in die Gegenwart seiner zerstörten Kirche zurück. Er fragt sich, was er tun soll. Es muss ein Gutachter her, denkt er, ein Statiker, der das Ausmaß der Schäden feststellen kann. Soll ich die Polizei anrufen? Die Feuerwehr? Sind die überhaupt zuständig? Er beschließt zunächst den Bischof anrufen und diesen um Rat zu bitten.
Der plötzliche Einbruch des Kirchendaches wirft Rätsel auf. Eine Fremdeinwirkung lässt sich nicht feststellen, keine Feuchtigkeit, kein Schimmel, kein Schädlingsbefall, keine Fehlbelastung, erst recht keine mutwillige Zerstörung. Das Gotteshaus ist erst vor wenigen Jahren renoviert worden. Alle sind sich einig, dass der Unfall vielen Menschen das Leben hätte kosten können. Sie preisen die Intuition des Pfarrers und sprechen – je nach Glauben – von Gottes Vorsehung oder vom Glück im Unglück!
In den folgenden Wochen und Monaten häufen sich die Meldungen von einstürzenden Kirchendächern im ganzen Land. Wie durch ein Wunder, wird dabei nie jemand verletzt. Die Gotteshäuser sind zum Zeitpunkt des Unfalls stets menschenleer. Bald traut sich aber auch kaum noch jemand überhaupt eine Kirche zu betreten. Tragwerksplaner und Bauingenieure begutachten die beschädigten Gebäude und finden keine physikalisch einwandfreie Erklärung für die Dacheinbrüche. Manche vermuten Materialmüdigkeit als Ursache. Andere bringen indirekt den Klimawandel als Auslöser ins Spiel. Durch die Wetterextreme der letzten Jahre seien die Tragebalken ihrer Meinung nach starken Schwankungen in Temperatur und Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen. Die molekulare Struktur des organischen Materials hätte sich in rascher Folge immer wieder verändert. Die damit einhergehenden Spannungen müssten, so die Vermutung, zu Rissen im Innern des Holzes und schließlich zu Brüchen geführt haben. Bei den vielen noch intakten Kirchendächern, die ebenfalls untersucht werden, findet man allerdings keinerlei Anzeichen einer irgendwie gefährdeten Statik. Alles sieht normal aus.
Von Anfang an wird in der Presse ausführlich über die sich häufenden Unfälle berichtet. Die Redaktionen können ihr Glück kaum fassen und stürzen sich mit Begeisterung auf das Thema. Man reibt sich verwundert die Augen und nutzt die Gelegenheit zu grundlegenden Fragen. Das kommt bereits in den Schlagzeilen zum Ausdruck. Häme und Spott bleiben dabei nicht immer verhohlen.
„Ungeahnte Durchblicke“, schreibt etwa DER SPIEGEL, „Die Entdeckung des Himmels“.
Die Frankfurter Allgemeine sieht die Zeit zu einer Bestandsaufnahme gekommen. Sie titelt: „Dachschaden. Woran die Kirche krankt“.
Die Tageszeitung Die Welt versucht dem Ganzen einen höheren Sinn abzugewinnen: Sie macht mit folgender Schlagzeile auf: „Einbruch des Himmels: Offenbarung der anderen Art“.
In die gleiche Richtung gedacht, nur frecher formuliert, schreibt DIE ZEIT online: „Einstürzende Altbauten | Näher, mein Gott, zu dir“.
Zuletzt ein Ausschnitt aus meiner Novelle "Hiobs Freunde":
Er sieht sie kommen, bevor sie seine Nähe auch nur erahnen, sieht und erkennt sie sofort. Eine eigentümliche Mischung aus Freude und Furcht erfasst ihn. Beide hat er lange nicht mehr empfunden. Worüber freuen? Wovor fürchten? Hat er nicht alle Freude zu Ende gefreut, ausgefreut? Alle Siege und Erfolge so freudig durchlebt, dass jedes Hochgefühl aufgebraucht ist? Wie ein längst ausgeleerter Weinschlauch kommt er sich vor, trocken und hart. Und wer die Freude verloren hat, was hat der noch zu fürchten? Schmerzen? Sind schon da! Der Tod? Wäre eine Erlösung! Und doch spürt er jetzt etwas wie Furcht, wie eine innere Unruhe, eine bange Erwartung. Da wird ihm klar: Es ist die Wahrheit, die ihn erzittern lässt, die einzige Macht, die er noch fürchtet, die ihm etwas bedeutet. Er bangt um die Wahrheit. Sie ist das einzige, das er jetzt noch verlieren kann. Und gleichzeitig verbindet sich mit dem Anblick der Kommenden ein Gefühl der Freude, der Vorfreude, als läge in ihrer Ankunft eine Ankündigung, als würde ihr Erscheinen ihm künden: Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht.
Ihre letzte Zusammenkunft erscheint ihm wie ein Bild aus einer fernen Vergangenheit – oder aus einem fernen Land, wie ein Traumbild. Die Erinnerung daran verblasst und er fragt sich: War das nur Einbildung, war das gar nicht ich damals, der mit den Freunden gescherzt und gefeiert hat? Damals, als das Leben noch süß war. Nun ist es bitter und auch die Süße ist eine Erinnerung, eine Gaumenerinnerung, die verblasst. Er kann sie nicht mehr kosten. Wie also, wundert er sich, sollen ausgerechnet diese fremd Gewordenen die Wahrheit seines Loses lichten?
Bildad reitet voraus. Wäre anders auch schwer vorstellbar, denkt er. Bildad will das hier ordentlich hinter sich bringen. Er zieht das durch, zieht dem Unbeherrschbaren, dem Unberechenbaren entgegen um ihm einen Platz zuzuweisen, es beherrschbar zu machen. So war er schon immer, denkt er. Immer schon zeigte Bildad dem Ungewissen die Stirn. Und jetzt kommt er hergeritten um das Eingebrochene, das über dem Freund Zusammengebrochene einzufangen. So kommt er dahergeritten, wie einer, den nichts aus dem Sattel wirft.
Nicht ganz so entschieden sehen Elifas und Zofar aus, eher besorgt. Aber auch das ist nichts Neues. So lange er sie kennt, sorgten sie sich, Zofar meistens um sich, um sein Hab und Gut – Elifas eher um andere. Er hatte stets ein offenes Ohr für die Sorgen seiner Brüder. Und so wandte man sich gern ihm zu, wenn man etwas von der eigenen Last abzuwälzen wünschte. Umgekehrt aber kümmerte sich kaum jemand um ihn. Das schien ihm sogar ganz recht zu sein.
Hinten reitet einer, den er nicht kennt, einer, der sich sehr aufrecht auf seinem Esel hält. Er schaut vornehm aus, blass und streng, ist offenbar ein Levit, einer dieser Besserwisser, denkt er bitter. In seiner Sippe waren sie nicht sonderlich beliebt gewesen die Schriftgelehrten. Immer wissen sie ganz genau, was zu tun ist, hört er sein Vater noch schimpfen, pausenlos zitieren sie die Propheten, geben Anweisungen, verlangen Opfer, machen sich selbst aber die Hände nicht schmutzig. Weshalb der wohl dabei ist? Er kann nicht wirklich ein Freund seiner Freunde sein, so wie er sich abseits hält, so wie er fast schon missbilligend auf die anderen schaut. Vielleicht hat er sich ihnen bloß angeschlossen, um sicher reisen zu können. Immerhin gibt es hier draußen so viele Heiden. Aber dann bleibt die Frage, wohin er unterwegs ist, der junge Fremdling.
Er schiebt seine Scherbe unters Stroh, bedeckt sein geschundenes Haupt und senkt seinen Blick, als würde er vor sich hin dösen. Sie werden ihn bald gewahren. Er möchte ihnen das erste Wort lassen, die erste Frage. Sie sollen den Anfang machen, ihn ansprechen, aussprechen den Namen des Freundes, den er selbst seit damals nicht mehr aussprechen hörte. Ja, denkt er befriedigt, was liegt nicht alles im ersten Wort, im Anfang, der alles umfängt. Hört man genau hin, hört man in ihm auch das zweite, das dritte, das vierte und alle weiteren Worte bis hin zum letzten, in dem alles Gesagte und alles ungesagt Gebliebene ausklingt.
„Gott segne dich, Alter!“
Er blickt nicht auf, aber er weiß, dass es Bildad ist, der wenige Schritte vor seinem Bergloch hält und ihn grüßt. Er nickt leicht zum Zeichen, dass er gehört hat, offenbar aber nicht in der Lage ist den Gruß zu erwidern.
„Wir suchen einen Freund, der sich hier in der Gegend angesiedelt haben soll. Sein Name ist Hiob. Wisst ihr, wo wir ihn finden können?
Er strafft seinen Oberkörper, schaut herüber zu Bildad und sieht sogleich, dass der ihn nicht erkennt. Bildads Augen weiten sich aber und sein Mund öffnet sich leicht, als er das entstellte Antlitz des Ausgesetzten erblickt. „Einen Freund“, räuspert er sich, „Ihr sucht einen Freund?“
„Ja“, mischt sich Elifas ein, „er heißt Hiob und ist ein alter Freund von uns.“
„Alter Freund“, wiederholt der Kranke für sich, als versuche er zu verstehen, als müsse er sich selbst verdeutlichen, was die Männer meinen könnten. „Verzeiht“, bittet er nun in Richtung Elifas, „aber sucht man nicht gemeinhin das, was man verloren hat?“
„Ähm, ja, natürlich“, antwortet Elifas, der nicht weiß, worauf der Alte hinaus will.
„Ja, natürlich“, wiederholt dieser und nickt wieder.
Bildad wird ungeduldig und drängt: „Wisst Ihr etwas, so sagt es uns! Ansonsten lasst uns weiterziehen.“
Der Zerlumpte antwortet nicht gleich, aber sie sehen, dass seine Schultern beben. Es dauert einen Moment, bevor sie erkennen, dass er in sich hinein kichert. Dann hustet und keucht er.
Die Reiter neigen sich unwillkürlich etwas nach hinten. Man sieht ihnen an, was sie denken: Dieser bedauernswerte Mann ist nicht nur krank und entstellt am Kopf, sondern auch im Kopf. Er redet wirr.
Doch der Alte ist offenbar noch nicht fertig. „Verzeiht einem alten Schwachkopf, Ihr Herren, dass ich so unhöflich war, Ihre Frage nicht zu beantworten. Es ist nur so, dass ich mich fragte, wie das wohl geht, einen Freund zu verlieren.“
Die Reiter blicken sich gegenseitig an, überrascht, solch gepflegte Worte von dieser Lumpengestalt zu hören. Bildad bedeutet ihm weiterzureden.
„Ich meine“, fährt der Alte fort und kichert wieder kurz, „ein Freund ist doch einer, den man kennt. Und weil man weiß, wer er ist, weiß man dann nicht auch, wo er ist? Ist ein Freund nicht immer auch ein Teil von uns? Wie könnte ich ihn dann verlieren?“ Er schüttelt den Kopf und den Reitern ist nicht klar, ob wegen seiner eigenen Gedanken oder ihrer Frage. „Nein“, meint er dann, „was man sucht, was man suchen muss, weil es einem fehlt, ist doch eigentlich das Fremde. Deshalb frage ich mich, ob Ihr wirklich einen Freund, ob Ihr nicht vielmehr einen Fremden sucht.“
Die vier Männer schauen etwas betreten, nachdem der Höhlenmann geendet hat. Was er ihnen sagt, ist konfus, da sind sie sich auch ohne Worte einig. Der Mann ist ein Irrsinniger, ein Einsiedler, den die Einsamkeit seiner Grotte um den Verstand gebracht hat. Aber wie er es sagt, wie er zu ihnen spricht, lässt sie aufhorchen. Etwas daran – ist es der Klang seiner Stimme? – macht, dass sie seine Worte nicht einfach beiseiteschieben können.
Also beschließt Elifas darauf einzugehen. „Vor einiger Zeit ist unser Freund über Nacht verschwunden. Das hat uns in der Tat befremdet. Wir machten uns Sorgen und schickten ihm einen Boten nach. Der Diener sollte unseren Freund suchen und ihm unsere Hilfe anbieten. Aber der Beauftragte kam nie zurück. Wir befürchten, dass er Räubern oder wilden Tieren zum Opfer gefallen ist. Wir ließen nach ihm suchen, nach dem verschollenen Sucher, am Ende aber vergebens. Danach dauerte es lange, bis wir herausfanden, wo unser Freund sein konnte.“
„Wir haben ihn all die Zeit in unseren Herzen getragen“, ergänzt Zofar, der sich entschieden hat das Spielchen mitzuspielen. „So war er uns immer nah, obwohl wir ihn suchen mussten.“ Er betont jedes Wort, als rede er zu einem einfältigen Kind.
„Er war euch immer nah?“, unterbricht ihn der Zerlumpte plötzlich hellwach. „Ihr meint wohl, er ist euch immer nah, oder? Denn, was euch nah ist, was euch nahe geht, ist das nicht immer gegenwärtig? Also ist er euch nah, euer Freund, nicht wahr?“
Zofar winkt ab: „Ja, ja, schon gut, wie Ihr wollt. Natürlich ist mir mein Freund gegenwärtig.“ Er schaut hinüber zu Bildad. Der zuckt die Schultern und verdreht die Augen.
„Und wenn Euer Freund jetzt des Weges käme, hier am Weideplatz der Schweine“, drängt sie der Alte, „würdet Ihr ihn sehen? Und wenn Ihr ihn sähet, würdet Ihr ihn erkennen, den Freund?“ Da wird es einen Moment lang still, während die Freunde sich über die Frage wundern, die so unvermittelt daherkommt. Er kann spüren, wie in dieser Stille erst ihr Unglaube, dann ihr Entsetzen wächst, als sie erkennen: Er sitzt bereits vor uns, der Freund, und ist ein Fremder.